Carlotta ist 15 Jahre alt und Präsidentin des Arbeitgeberverbands der Großbäckereien in Deutschland – zumindest virtuell für einen Tag. Die Schülerin simuliert in ihrer Klasse eine Tarifverhandlung. Sie und ihre MitschülerInnen sind in drei Gruppen aufgeteilt: in die Gewerkschaft, den Arbeitgeberverband der Großbäckereien und den Zentralverband des Deutschen Handwerks. Das besondere an der Simulation: Sie findet digital statt. Jeder Schüler und jede Schülerin hält ein Tablet in der Hand. Die Geräte sind mit dem Schul-WLAN verbunden und untereinander verknüpft. „Es ist ein riesiger Unterschied, ob man 0,25 Prozent oder fünf Prozent mehr Gehalt fordert. Das Ausmaß der Konsequenzen wird den Schülern aber oft erst klar, wenn sie die Unternehmensdaten beobachten können“, sagt Dr. Michael Schuhen. Er arbeitet und forscht am Zentrum für ökonomische Bildung (ZöBiS) der Universität Siegen. Auf dem Display kann Carlotta in Tabellenansicht direkt nachvollziehen, was sich unter welchen Umständen wie ändert: Wenn sie den Lohn für die Beschäftigten erhöht, müssen die Brötchenpreise steigen. Dadurch sinkt aber die Nachfrage. Unter welchen Bedingungen kann sie auf die Forderungen der Gewerkschaft eingehen, ohne einen Gewinneinbruch zu erleiden?
Das Rollenspiel ist Teil eines digitalen Wirtschafts-Schulbuchs namens „Econ EBook“, das Dr. Michael Schuhen mit seinem Kollegen Manuel Froitzheim entwickelt hat. Es bildet den vorgeschriebenen Lehrplan in NRW ab. Anders als bei traditionellen Schulbüchern setzt Schuhen aber nicht mehr auf Frontalunterricht. Im Vordergrund stehen Experimente, ökonomische Szenarien und der Reflexionsprozess. „Es geht hier nicht darum, Schulbücher zu digitalisieren, zum Beispiel als pdf-Datei zum Scrollen. Das konnte man schon in den 90er-Jahren umsetzen“, stellt Schuhen klar. Vielmehr wollen die Forscher neue Formen des Lehrens und Lernens schaffen. „Wir wollen, dass die Schülerinnen und Schüler Wirtschaftsprozesse erleben und nutzen deshalb viele Simulationen und Rollenspiele, um Lerninhalte zu vermitteln“, so Manuel Froitzheim.
Früher – und teilweise noch heute – mussten LehrerInnen für Rollenspiele Material ausdrucken, Kärtchen ausschneiden und austeilen. Nach einem Durchgang mussten die Kärtchen neu sortiert werden. „Wir wollen durch die Digitalisierung die LehrerInnen nicht nur im Unterricht, sondern auch in der Vor- und Nachbereitung unterstützen“, erklärt Schuhen. Durch die Tablet-Version des Rollenspiels können die LehrerInnen digital den SchülerInnen Rollen zuteilen. Dadurch gewinnen sie Zeit. Gleiches gilt für die Hausaufgabenkontrolle: Die LehrerInnen sehen, welche SchülerInnen die Hausaufgaben nicht gemacht haben. Im analogen Unterricht verbringen LehrerInnen oft fünf Minuten damit, zu kontrollieren, wer die Hausaufgaben bearbeitet hat und ob es typische Fehler gab. Diese Zeit kann jetzt anders genutzt werden, zum Beispiel für Reflexion und Diskussionen. „Häufig verfestigt sich Wissen erst, wenn man reflektiert über ein Thema spricht. Umso wichtiger ist es, dafür genügend Zeit zu haben“, erklärt Schuhen. „Und auch die Hausaufgaben lassen sich nun gezielt besprechen“, so Manuel Froitzheim, „da diese vielfach bereits vorausgewertet werden können und der Lehrer so auf einen Blick häufige Bearbeitungsfehler seiner Schüler erkennt.“
Einige haben Bedenken, dass durch die Digitalisierung die LehrerInnen in den Hintergrund rücken, sagen die Wissenschaftler. Das sei aber ganz und gar nicht ihre Herangehensweise. „Der Lehrer steht immer im Zentrum des Unterrichtsgeschehens.“ Es sei ein Trugschluss, dass die SchülerInnen nur noch vor ihrem Tablet sitzen. Die Geräte würden eingesetzt, wenn sie einen Mehrwert bringen, sonst nicht.
Wer den digitalen Schritt wagt, wird mit vielen Vorteilen belohnt: GPS und Echtzeitanzeigen sind zwei davon. Durch GPS kann das digitale Schulbuch dem Ort der Schule zugeordnet werden. Wenn im Unterricht zum Beispiel das Thema Oligopol besprochen wird, können die SchülerInnen die Tankstellenpreise in der Region in Echtzeit beobachten und diskutieren, um welche Marktform es sich in der Branche handelt.
Durch die digitale Unterrichtslösung können die LehrerInnen außerdem spielerische Tests im Quizformat durchführen. Wenn sie dabei merken, dass 80 Prozent der SchülerInnen ein und dieselbe Aufgabe falsch gelöst haben, wissen die LehrerInnen: Das Thema sollte im Unterricht noch einmal besprochen werden. Im analogen Unterricht würde so etwas erst nach einer Klausur offensichtlich werden – zu spät.
Etwa 3.000 NutzerInnen – darunter LehrerInnen, SchülerInnen und Studierende – begleiten Michael Schuhen und sein Wissenschaftlicher Mitarbeiter Manuel Froitzheim für den voll digitalisierten Unterricht vor allem in NRW, Hessen und Rheinland-Pfalz: Dazu zählen Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung. Am Anfang – im Jahr 2015 – saßen sie über Wochen im Unterricht, für den Fall, dass Probleme auftreten. Mittlerweile führen viele LehrerInnen den Unterricht selbstständig durch.
Digitale Bildung kann Tücken haben – das weiß Schuhen. Er weiß auch, dass es wichtig ist, die möglichen Probleme zu thematisieren, weil erst dadurch die Akzeptanz für die Digitalisierung entstehen kann. Funktioniert mein digitaler Unterricht überhaupt mit dem WLAN meiner Schule? Und was mache ich, wenn es plötzlich ausfällt? „Keiner bereitet sich doppelt vor für den Fall der Fälle, dass das WLAN doch mal hakt. Das heißt: Die Lehrer müssen entweder drauf eingestellt sein, im Notfall zu improvisieren oder das technische Problem lösen zu können“, sagt Schuhen.
Generell fordert er, ausgebildete InformatikerInnen mehr mit LehrerInnen und FachdidaktikerInnen zusammenzubringen. „Momentan müssen wir in den Schulen erstmal Laptops und Tablets ans Laufen bringen“, sagt der Wissenschaftler. An der Situation werde sich aber dank des DigitalPakts Schule sehr bald etwas ändern. Mit dem DigitalPakt Schule wollen Bund und Länder für eine bessere Ausstattung der Schulen mit digitaler Technik sorgen. Insgesamt stehen fünf Milliarden Euro über fünf Jahre zur Verfügung.
Bilder und Text: Universität Siegen